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Russland
Frauenrechte - Versprechen und Enttäuschungen
Beloe Zlato
Als die Wiener Psychologin Alexandra K. russischen Frauen helfen wollte, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, erlebte sie eine unangenehme Überraschung. Das Projekt Nasiliu.net (No To Violence) musste ihre Spende mit Bedauern zurückweisen – sonst droht die Registrierung als „ausländischer Agent“.
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So steht es in einem russischen Gesetz, das zuerst 2012 beschlossen und seither mehrmals verschärft wurde. Ursprünglich war das als Druckmittel gegen die politische Opposition gedacht. Doch Putins Schikane trifft auch Gruppen, die sich für Frauenrechte engagieren. Einige von ihnen sind international vernetzt und geraten damit ins Visier der Behörden.
Nach der neuesten Fassung des Gesetzes aus dem Jahr 2020 müssen NGOs sogar bei privaten Unterstützern aus dem eigenen Land vorsichtig sein. Denn es genügt, dass der Spender selbst einmal Geld aus dem Westen bekommen hat, und schon kann man sich auf der Liste ausländischer Agenten finden.
Von internationaler Unterstützung zunehmend abgeschnitten, führen russische Aktivistinnen für Frauenrechte einen schwierigen Kampf. In der Duma, dem russischen Parlament, bläst ihnen seit der Jahrtausendwende ein zunehmend scharfer Wind entgegen, und das vergangene Jahr brachte weitere Rückschläge.
Rückschläge im Parlament
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Während die Fälle häuslicher Gewalt spürbar anstiegen, verschleppte das von Putins Machtapparat beherrschte Parlament alle Initiativen, Frauen einen besseren rechtlichen Schutz zu bieten. Begleitet wird das von einer Ideologie, für die Aussagen und Vorstellungen wie „wenn er Dich schlägt, beweist es, dass er Dich liebt“ typisch sind.
Bereits seit den 90er-Jahren versuchen Frauenrechtsorganisationen, die rechtliche Situation zu verbessern und ein Gesetz gegen häusliche Gewalt durchzusetzen. In den meisten ehemaligen Republiken der UdSSR gibt es solche Gesetze. In der Russischen Föderation blieben bisher alle Versuche ohne Erfolg.
Frauenrechte – bitte warten!
Vor dreißig Jahren weckte der demokratische Aufbruch nach dem Ende der Sowjetunion viele Hoffnungen. Doch die Lage der russischen Frauen hat sich seither eher verschlechtert. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Herbst verloren engagierte Feministinnen ihre Sitze, einige von ihnen ihre Positionen in Putins Partei „Einiges Russland“.
Der Sowjet-Kommunismus hinterließ ein geistiges Vakuum, das bald von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefüllt wurde. Die Kirche wettert nicht nur gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen. Der Klerus wehrt sich auch gegen jede Einmischung des Staates in familiäre Angelegenheiten. Dementsprechend opponiert die Geistlichkeit offen gegen das Gesetzesvorhaben, das Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt schützen soll.
Versprechen und Enttäuschungen
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In den letzten hundert Jahren erlebten die russischen Frauen abwechselnd große politischeVersprechen und herbe Enttäuschungen. Die Revolutionäre von 1917 waren mit einem ambitionierten Programm zur Gleichstellung der Frau angetreten. Als Volkskommissarin für Soziale Fürsorge war Alexandra Kollontai die erste Ministerin der modernen Welt.
Als Mitglied des kommunistischen Führungskreises gelang es ihr, Frauen das Recht auf Scheidung zu erleichtern. Freie Partnerschaften wurden als Alternative zur bürgerlichen Ehe propagiert. Vor mehr als hundert Jahren setzte Kollontai in der frühen Sowjetunion bereits das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbruch durch.
Doch rasch wurde unter Stalin die traditionelle Familie wieder aufgewertet. Kinderreichtum war nun ausdrücklich erwünscht, Abtreibung wurde neuerlich unter Strafe gestellt. Frauen standen damit doppelt unter Druck. Sie durften nicht nur arbeiten gehen, sie mussten. Und nebenbei hatten sie noch den Haushalt zu führen und den Familienalltag zu organisieren. Obwohl die öffentliche Kinderbetreung in der Sowjetunion viel besser ausgebaut war als im demokratischen Westen, blieb genug Arbeit für die Kinder übrig. Und die lag zum allergrößten Teil bei den Frauen.

Sich von alkoholsüchtigen oder gewalttätigen Männern zu trennen, war auch während der kommunistischen Herrschaft praktisch unmöglich. Das lag an der akuten Wohnungsnot. So blieben zerrüttete Paare durch die Lebensumstände aneinander gekettet. Privatsphäre war ein Luxus, denn in den Städten mussten sich oft mehrere Familien eine Wohnung teilen. In der sogenannten „Kommunalka“, wo alle BewohnerInnen dieselbe Küche benützten, konnte jeder Streit von den Nachbarn mitgehört werden.
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Um keinen ‚Skandal’ zu verursachen, zogen es viele Frauen vor, Konflikten mit dem Partner auszuweichen. Damit gingen sie nicht zuletzt Unannehmlichkeiten in Beruf und Großfamilie aus dem Weg.
Karriere im Beruf - nur über die Kommunistische Partei
Auf der anderen Seite bot die Sowjetunion Frauen Möglichkeiten, die ihren westlichen Schwestern erst viel später offenstanden. In vielen staatlichen Bereichen konnten Frauen Karriere machen, von der Wissenschaft über die Medizin bis zur Landwirtschaft. Voraussetzung war allerdings die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei.
„In die Partei aufgenommen werden ist mein Ziel“
Wer in der sowjetischen Gesellschaft beruflich weiterkommen wollte, musste im kommunistischen Jugendverband Komsomol anfangen. Dort wurde eine Gesellschaft propagiert, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter selbstverständlich sein sollte – auch wenn das nicht den realen Machtverhältnissen entsprach. Ins Politbüro, das mächtigste Parteiorgan, haben es von 1919 bis zum Ende der Sowjetunion 1991 nur vier Frauen geschafft.
Aufreibender Alltag
Das hängt ja alles mit dem Alkohol zusammen.
In den letzten Jahren der Sowjetunion nahm die mehrfache Belastung der Frauen weiter zu. Gorbatschow experimentierte mit einem neuen Wirtschaftsmodell, das die Lohnhöhe von der Leistung abhängig machte. Häufig flüchteten Männer, die diesem Druck nicht gewachsen waren, mehr denn je in die Trunksucht.
Michail Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne schränkte den Verkauf von Alkohol ein. Bei Frauen kam das besser an als bei Männern. Alkohol hatte viele Familien zerstört und das Haushaltseinkommen geschmälert.
Wurst kommt dreimal im Monat
Bereits 1914 war der Verkauf von hochprozentigem Alkohol im Russischen Reich verboten worden. Wodka durfte nur noch kontrolliert in Gaststuben ausgeschenkt werden. Bei russischen Soldaten war das Alkoholverbot verhasst. Später nahmen kommunistische Parteiführer mehrere Anläufe, die weit verbreitete Trunksucht unter Kontrolle zu bekommen - ohne Erfolg.
„Niemand kann sich so eine Marktwirtschaft leisten“
Gorbatschows Reformen hatten aber noch einen anderen, unerwünschten Effekt. Seit Betriebe mehr Eigenständigkeit bekamen, wurde die Versorgung der Bevölkerung mit Bedarfsgütern schlechter. Umso mehr Zeit mussten Sowjetbürgerinnen dafür aufwenden, für ihre Familien das Notwendigste zu besorgen.
Kein Anrecht auf Kindergartenplätze
Demokratisierung, Glasnost und Perestroika (Offenheit und Umbau) eröffneten viele Möglichkeiten, Kritik und Unmut auszudrücken. An den Lebensbedingungen der Frauen änderte das wenig. Dabei waren sie in Moskau noch weit bessergestellt als in den Städten und Dörfern der Provinz. Sibirische Bergarbeiter mussten streiken, um für ihre Familien mehr Seife und Lebensmittel zu bekommen.
Wer hat es kaputt gemacht?
Die Armut der russischen Bevölkerung war lange Zeit ein Tabuthema gewesen. Nun wurde offen darüber geredet, dass der Lebensstandard in Russland hinter dem anderer Republiken der UDSSR und des sowjetischen Machtbereichs nachhinkte.
Neues Russland, alte Probleme
Doch auch die Hoffnungen auf das neue Russland unter Boris Jelzin wurden bald enttäuscht. Mit dem Ende der Planwirtschaft wurde der Alltag vieler russischer Frauen noch aufreibender. Zwar waren die Geschäfte jetzt voll, doch nur wenige konnten sich die importierten Waren leisten.
Viele Arbeitsplätze gingen verloren. Pensionistinnen standen von heute auf morgen ohne Einkommen da und mussten von ihren Kindern mitversorgt werden. Es dauerte viele Jahre, bis die Mehrheit der russischen Bevölkerung wieder den Lebensstandard der sowjetischen Zeit erreichte.
Männer als Mangelware
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Die Männer und die Beziehungen zu ihnen sind in Russland ein knappes Gut. Der hohe Frauenüberschuss bewirkt, dass viele Männer sich nicht sehr anstrengen müssen, um mit Frauen zusammen zu kommen und zusammen zu bleiben. Für die Frauen stellt es sich damit genau umgekehrt dar.
Je ländlicher die Herkunftsfamilie ist, desto notwendiger scheint es für die Frauen zu sein, einen Mann vorweisen zu können. Als alleinstehende selbstversorgende Frau zu leben ist auch im demokratischen Westen nicht immer ganz einfach. Und in Russland ist es genau wie hierzulande in der großen Stadt leichter als im Rest des Landes.
Bei den unter 20-jährigen sieht es nun aber ganz anders aus. Bei ihnen gibt es mehr männliche Kinder und Jugendliche als weibliche. Vielleicht können sich in ein paar Jahren die jungen Frauen ihre Männer aus einer größeren Auswahl aussuchen.
Hoher Blutzoll und ungesundes Leben
Russlands Männer haben im 20. Jahrhundert einen hohen Blutzoll bezahlt. Beginnend mit dem 1. Weltkrieg, gleich darauf in Revolution und Bürgerkrieg, wieder während der Kollektivierung der russischen Landwirtschaft, im großen stalinistischen Terror und noch mehr als davor im Kampf gegen Nazi-Deutschland von 1941 - 1945.
In der jüngeren Zeit sank die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer von 63,9 Jahren 1986 auf 58,9 Jahre im Jahr 2004. Erst allmählich steigt sie wieder auf Werte über jenen vor dem Ende der Sowjetunion. Die Hauptursachen sind eine ungesunde Lebensweise durch übermäßigen Konsum von Alkohol und Nikotin sowie Verkehrsunfälle, Suizide und Morde. 2010 lebten in Russland 10,7 Millionen mehr Frauen als Männer.
Dieser Umstand alleine macht es den Männer auf dem „Beziehungsmarkt“ leicht und den Frauen nicht einfach. Er ist sicher auch einer der Faktoren, der es den engagierten Frauen in Russland so sehr erschwert, genügend Geschlechtsgenossinnen auf ihre Seite zu ziehen. Der Druck vieler Wählerinnnen und damit eine entsprechende parlamentarische Stärke und Motivation wäre notwendig, um auf der politischen Ebene mehr zu erreichen und die herrschenden Eliten zu motivieren, Frauenrechten einen größeren Raum zuzugestehen.