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Russland

Frauenrechte - Versprechen und Enttäuschungen

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Als die Wiener Psychologin Alexandra K. russischen Frauen helfen wollte, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, erlebte sie eine unangenehme Überraschung. Das Projekt Nasiliu.net (No To Violence) musste ihre Spende mit Bedauern zurückweisen – sonst droht die Registrierung als „ausländischer Agent“.
Facebook Posting - No To Violence muss Spenden aus dem Ausland ablehnen.
So steht es in einem russischen Gesetz, das zuerst 2012 beschlossen und seither mehrmals verschärft wurde. Ursprünglich war das als Druckmittel gegen die politische Opposition gedacht. Doch Putins Schikane trifft auch Gruppen, die sich für Frauenrechte engagieren. Einige von ihnen sind international vernetzt und geraten damit ins Visier der Behörden.
Nach der neuesten Fassung des Gesetzes aus dem Jahr 2020 müssen NGOs sogar bei privaten Unterstützern aus dem eigenen Land vorsichtig sein. Denn es genügt, dass der Spender selbst einmal Geld aus dem Westen bekommen hat, und schon kann man sich auf der Liste ausländischer Agenten finden.
Von internationaler Unterstützung zunehmend abgeschnitten, führen russische Aktivistinnen für Frauenrechte einen schwierigen Kampf. In der Duma, dem russischen Parlament, bläst ihnen seit der Jahrtausendwende ein zunehmend scharfer Wind entgegen, und das vergangene Jahr brachte weitere Rückschläge.

Rückschläge im Parlament

Junge Frauen protestieren gegen häusliche Gewalt Sergey Mamontov/Sputnik/dpa
Junge Frauen protestieren gegen häusliche Gewalt
Während die Fälle häuslicher Gewalt spürbar anstiegen, verschleppte das von Putins Machtapparat beherrschte Parlament alle Initiativen, Frauen einen besseren rechtlichen Schutz zu bieten. Begleitet wird das von einer Ideologie, für die Aussagen und Vorstellungen wie „wenn er Dich schlägt, beweist es, dass er Dich liebt“ typisch sind. 
Bereits seit den 90er-Jahren versuchen Frauenrechtsorganisationen, die rechtliche Situation zu verbessern und ein Gesetz gegen häusliche Gewalt durchzusetzen. In den meisten ehemaligen Republiken der UdSSR gibt es solche Gesetze. In der Russischen Föderation blieben bisher alle Versuche ohne Erfolg.

Frauenrechte – bitte warten!

Vor dreißig Jahren weckte der demokratische Aufbruch nach dem Ende der Sowjetunion viele Hoffnungen. Doch die Lage der russischen Frauen hat sich seither eher verschlechtert. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Herbst verloren engagierte Feministinnen ihre Sitze, einige von ihnen ihre Positionen in Putins Partei „Einiges Russland“.
Der Sowjet-Kommunismus hinterließ ein geistiges Vakuum, das bald von der Russisch-Orthodoxen Kirche gefüllt wurde. Die Kirche wettert nicht nur gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen. Der Klerus wehrt sich auch gegen jede Einmischung des Staates in familiäre Angelegenheiten. Dementsprechend opponiert die Geistlichkeit offen gegen das Gesetzesvorhaben, das Frauen und Kinder vor häuslicher Gewalt schützen soll. 

Versprechen und Enttäuschungen

Alexandra Michailowna Kollontai Public Domain
Alexandra Michailowna Kollontai
In den letzten hundert Jahren erlebten die russischen Frauen abwechselnd große politischeVersprechen und herbe Enttäuschungen. Die Revolutionäre von 1917 waren mit einem ambitionierten Programm zur Gleichstellung der Frau angetreten. Als Volkskommissarin für Soziale Fürsorge war Alexandra Kollontai die erste Ministerin der modernen Welt.
Als Mitglied des kommunistischen Führungskreises gelang es ihr, Frauen das Recht auf Scheidung zu erleichtern. Freie Partnerschaften wurden als Alternative zur bürgerlichen Ehe propagiert. Vor mehr als hundert Jahren setzte Kollontai in der frühen Sowjetunion bereits das Recht der Frauen auf Schwangerschaftsabbruch durch. 
Doch rasch wurde unter Stalin die traditionelle Familie wieder aufgewertet. Kinderreichtum war nun ausdrücklich erwünscht, Abtreibung wurde neuerlich unter Strafe gestellt. Frauen standen damit doppelt unter Druck. Sie durften nicht nur arbeiten gehen, sie mussten. Und nebenbei hatten sie noch den Haushalt zu führen und den Familienalltag zu organisieren. Obwohl die öffentliche Kinderbetreung in der Sowjetunion viel besser ausgebaut war als im demokratischen Westen, blieb genug Arbeit für die Kinder übrig. Und die lag zum allergrößten Teil bei den Frauen.
Sowjetische Frauen in der Fabrik PD
Sowjetische Frauen in der Fabrik
Sich von alkoholsüchtigen oder gewalttätigen Männern zu trennen, war auch während der kommunistischen Herrschaft praktisch unmöglich. Das lag an der akuten Wohnungsnot. So blieben zerrüttete Paare durch die Lebensumstände aneinander gekettet. Privatsphäre war ein Luxus, denn in den Städten mussten sich oft mehrere Familien eine Wohnung teilen. In der sogenannten „Kommunalka“, wo alle BewohnerInnen dieselbe Küche benützten, konnte jeder Streit von den Nachbarn mitgehört werden.
Kommunalka PD
Kommunalka
Um keinen ‚Skandal’ zu verursachen, zogen es viele Frauen vor, Konflikten mit dem Partner auszuweichen. Damit gingen sie nicht zuletzt Unannehmlichkeiten in Beruf und Großfamilie aus dem Weg.

Karriere im Beruf - nur über die Kommunistische Partei

Auf der anderen Seite bot die Sowjetunion Frauen Möglichkeiten, die ihren westlichen Schwestern erst viel später offenstanden. In vielen staatlichen Bereichen konnten Frauen Karriere machen, von der Wissenschaft über die Medizin bis zur Landwirtschaft. Voraussetzung war allerdings die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei.

„In die Partei aufgenommen werden ist mein Ziel“

Wer in der sowjetischen Gesellschaft beruflich weiterkommen wollte, musste im kommunistischen Jugendverband Komsomol anfangen. Dort wurde eine Gesellschaft propagiert, in der die Gleichberechtigung der Geschlechter selbstverständlich sein sollte – auch wenn das nicht den realen Machtverhältnissen entsprach. Ins Politbüro, das mächtigste Parteiorgan, haben es von 1919 bis zum Ende der Sowjetunion 1991 nur vier Frauen geschafft.

Aufreibender Alltag

Das hängt ja alles mit dem Alkohol zusammen.

In den letzten Jahren der Sowjetunion nahm die mehrfache Belastung der Frauen weiter zu. Gorbatschow experimentierte mit einem neuen Wirtschaftsmodell, das die Lohnhöhe von der Leistung abhängig machte. Häufig flüchteten Männer, die diesem Druck nicht gewachsen waren, mehr denn je in die Trunksucht.
Michail Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne schränkte den Verkauf von Alkohol ein. Bei Frauen kam das besser an als bei Männern. Alkohol hatte viele Familien zerstört und das Haushaltseinkommen geschmälert.

Wurst kommt dreimal im Monat

Bereits 1914 war der Verkauf von hochprozentigem Alkohol im Russischen Reich verboten worden. Wodka durfte nur noch kontrolliert in Gaststuben ausgeschenkt werden. Bei russischen Soldaten war das Alkoholverbot verhasst. Später nahmen kommunistische Parteiführer mehrere Anläufe, die weit verbreitete Trunksucht unter Kontrolle zu bekommen - ohne Erfolg.

„Niemand kann sich so eine Marktwirtschaft leisten“

Gorbatschows Reformen hatten aber noch einen anderen, unerwünschten Effekt. Seit Betriebe mehr Eigenständigkeit bekamen, wurde die Versorgung der Bevölkerung mit Bedarfsgütern schlechter. Umso mehr Zeit mussten Sowjetbürgerinnen dafür aufwenden, für ihre Familien das Notwendigste zu besorgen.

Kein Anrecht auf Kindergartenplätze

Demokratisierung, Glasnost und Perestroika (Offenheit und Umbau) eröffneten viele Möglichkeiten, Kritik und Unmut auszudrücken. An den Lebensbedingungen der Frauen änderte das wenig. Dabei waren sie in Moskau noch weit bessergestellt als in den Städten und Dörfern der Provinz. Sibirische Bergarbeiter mussten streiken, um für ihre Familien mehr Seife und Lebensmittel zu bekommen.

Wer hat es kaputt gemacht?

Die Armut der russischen Bevölkerung war lange Zeit ein Tabuthema gewesen. Nun wurde offen darüber geredet, dass der Lebensstandard in Russland hinter dem anderer Republiken der UDSSR und des sowjetischen Machtbereichs nachhinkte.

Neues Russland, alte Probleme

Doch auch die Hoffnungen auf das neue Russland unter Boris Jelzin wurden bald enttäuscht. Mit dem Ende der Planwirtschaft wurde der Alltag vieler russischer Frauen noch aufreibender. Zwar waren die Geschäfte jetzt voll, doch nur wenige konnten sich die importierten Waren leisten.
Viele Arbeitsplätze gingen verloren. Pensionistinnen standen von heute auf morgen ohne Einkommen da und mussten von ihren Kindern mitversorgt werden. Es dauerte viele Jahre, bis die Mehrheit der russischen Bevölkerung wieder den Lebensstandard der sowjetischen Zeit erreichte.

Männer als Mangelware

Bevölkerungsstruktur 2016: Geburtensturz ab 1990 hoher Frauenüberschuss CC BY-SA 4.0 - Afus199620 - CIA World Factbook
Bevölkerungsstruktur 2016: Der Geburtensturz ab 1990 und der hohe Frauenüberschuss in der Gesamtbevölkerung. Unter 20 überwiegen die männlichen Kinder und Jugendlichen.
Die Männer und die Beziehungen zu ihnen sind in Russland ein knappes Gut. Der hohe Frauenüberschuss bewirkt, dass viele Männer sich nicht sehr anstrengen müssen, um mit Frauen zusammen zu kommen und zusammen zu bleiben. Für die Frauen stellt es sich damit genau umgekehrt dar.
Je ländlicher die Herkunftsfamilie ist, desto notwendiger scheint es für die Frauen zu sein, einen Mann vorweisen zu können. Als alleinstehende selbstversorgende Frau zu leben ist auch im demokratischen Westen nicht immer ganz einfach. Und in Russland ist es genau wie hierzulande in der großen Stadt leichter als im Rest des Landes.
Bei den unter 20-jährigen sieht es nun aber ganz anders aus. Bei ihnen gibt es mehr männliche Kinder und Jugendliche als weibliche. Vielleicht können sich in ein paar Jahren die jungen Frauen ihre Männer aus einer größeren Auswahl aussuchen.

Hoher Blutzoll und ungesundes Leben

Russlands Männer haben im 20. Jahrhundert einen hohen Blutzoll bezahlt. Beginnend mit dem 1. Weltkrieg, gleich darauf in Revolution und Bürgerkrieg, wieder während der Kollektivierung der russischen Landwirtschaft, im großen stalinistischen Terror und noch mehr als davor im Kampf gegen Nazi-Deutschland von 1941 - 1945.
In der jüngeren Zeit sank die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer von 63,9 Jahren 1986 auf 58,9 Jahre im Jahr 2004. Erst allmählich steigt sie wieder auf Werte über jenen vor dem Ende der Sowjetunion. Die Hauptursachen sind eine ungesunde Lebensweise durch übermäßigen Konsum von Alkohol und Nikotin sowie Verkehrsunfälle, Suizide und Morde. 2010 lebten in Russland 10,7 Millionen mehr Frauen als Männer.
Dieser Umstand alleine macht es den Männer auf dem „Beziehungsmarkt“ leicht und den Frauen nicht einfach. Er ist sicher auch einer der Faktoren, der es den engagierten Frauen in Russland so sehr erschwert, genügend Geschlechtsgenossinnen auf ihre Seite zu ziehen. Der Druck vieler Wählerinnnen und damit eine entsprechende parlamentarische Stärke und Motivation wäre notwendig, um auf der politischen Ebene mehr zu erreichen und die herrschenden Eliten zu motivieren, Frauenrechten einen größeren Raum zuzugestehen.
Putin mit russisch-orthodoxen Bischöfen in Possad dpa / Mikhail Klimentiev
Putin mit russisch-orthodoxen Bischöfen in Possad
Orthodox

Die Stimme der Patriarchen

dpa / Mikhail Klimentiev
Unter Wladimir Putin wird ein Familienideal propagiert, das an die Stalin-Zeit erinnert: Russische Familien sollen möglichst viele Kinder bekommen, Frauen werden wieder gerne als Mütter künftiger Soldaten gesehen.
2017 beschloss das russische Parlament mit großer Mehrheit, bestimmte Formen häuslicher Gewalt zu entkriminalisieren. Seither wird das erstmalige oder gelegentliche Schlagen von Frauen und Kindern in den meisten Fällen nur mehr als Verwaltungsübertretung eingestuft. Nur wer seine Frau krankenhausreif schlägt, muss mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen.
Gegen diese Bagatellisierung der Gewalt sprach sich im April 2021 das russische Verfassungsgericht aus. Der Zunahme von Gewalttaten in der Familie müsse mit schärferen gesetzlichen Mitteln begegnet werden. Doch das russische Parlament ignoriert weiterhin den Spruch der Höchstrichter. 
Unter der Schirmherrschaft der russischen Kirche hatten sich hundert Organisationen in einem offenen Brief an Präsident Putin gewandt. Sie verurteilten den „westlichen Feminismus“, der die russische Familie „von innen her zerstören wolle“.

Gegen die „kapitalistische Dekadenz“

Ähnliche Worte hatten Stalins Anhänger 1936 benutzt, als es um die Verabschiedung einer neuen Verfassung ging. Damals wurde behauptet, die Gleichstellung freier Partnerschaften mit der klassischen Familie sei nichts als ein Komplott des Westens, um den Zusammenhalt der Sowjetunion zu schwächen.
Nach dem Untergang der sowjetmarxistischen Ideologie suchten die Regierungen von Jelzin, Putin und Medwedew dringend eine neue nationale Ideologie, die imstande wäre, die Mehrheit der Bevölkerung zwischen Königsberg und Wladiwostok zu einen. Der allrussische Patriotismus der orthodoxen Kirche bot sich dafür an.
Die orthodoxe Kirche hatte die Verfolgungen der frühen Sowjet-Zeit überlebt und schaffte es während des Zweiten Weltkrieges, sich als patriotische Kraft an den Stalinismus anzupassen.

Überleben und anpassen

Stalin, Metropoliten PD
Stalin, Metropoliten
Mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion begann für die russische und die ukrainische Kirche ein neues Kapitel. Die Nazi-Besatzer ließen die Kirche gewähren. Damit hofften sie den Kommunisten zu schaden und zwischen Juden und Christen einen Keil zu treiben.
Josef Stalin reagierte auf diese Entwicklung geschickt und suchte seinerseits das Gespräch mit dem höheren Klerus. Noch wenige Jahre davor hatte er die Erlöser-Kathedrale im Zentrum Moskaus in die Luft sprengen lassen. 1943 ließ Stalin die Wahl eines neuen Patriarchen zu. Die Bischöfe gaben Solidaritätserklärungen mit dem angegriffenen Vaterland und seiner kommunistischen Führung ab. Die Soldaten der Roten Armee bekamen patriotisch-religiöse Seelsorge.
Patriarch Alexej II, Wladimir Putin, Boris Jelzin AFP
Patriarch Alexej II, Ministerpräsident Putin und Präsident Jelzin
Nach dem Krieg ging es mit dem Verhältnis zwischen der kommunistischen Partei und der orthodoxen Kirche weiterhin auf und ab. Der deutsch-amerikanische Historiker Walter Laqueur schrieb, dass die Kirche komplett vom sowjetischen Geheimdienst unterwandert und praktisch in den Apparat des KGB integriert gewesen sei. Viele Kleriker hätten sich als Informanten betätigt. Ein Aufstieg im kirchlichen System war ohne den Segen des KGB und des Politbüros ausgeschlossen.
Patriarch Kyrill I., Ministerpräsident Medwedew und Präsident Putin SRF
Patriarch Kyrill I., Ministerpräsident Medwedew und Präsident Putin
Nach dem Ende der Sowjetunion strebte die orthodoxe Kirche bald wieder ein religiöses „Monopol der Rechtgläubigkeit“ an. Auch wenn Millionen russischer Bürgerinnen und Bürger anderen Religionen angehören. Die Vorstellungen der regierenden Elite unter Putin und der orthodoxen Führung von einem „einigen Russland“ passen heute jedenfalls sehr gut zusammen.
Jelzin hält eine Rede auf einem Panzer auf dem roten Platz
Jelzin hält im während des Putsches 1991 seine berühmte Rede
Demokratie

Aufbruch in eine liberale Zukunft

Als Boris Jelzin zum Präsidenten der russischen Föderation gewählt wurde, glaubten viele, vor allem junge, Menschen in Russland, ihnen stünde nun der Weg offen in ein Leben, wie es in den westlichen Medien dargestellt wird.

Kurzer Glaube an den „American Way of Life“

Viele, die von Disziplinierung undUnterdrückung genug hatten, sehnten sich nach einem Russland, das Individualismus, Marktwirtschaft und Meinungsfreiheit Raum geben würde. Mit seinem Reichtum an Rohstoffen und der großen Zahl gut ausgebildeter Bürgerinnen und Bürger werde man raschdie Probleme der Sowjetunion und des Kommunismus hinter sich lassen.

Party California

So erlebte der Glaube an den „American Way of Life“ in Russland wie in anderen Teilen des ehemaligen Ostblocks einen unerwarteten Aufschwung. Freiheit und mehr Wohlstand für die ganze Bevölkerung waren ja die beiden Versprechen, die der sowjetische Kommunismus nie eingelöst hatte. Der politischen Klasse und dem Militär wurde misstraut. Wenn Auswandern auch nur für wenige eine Option war, so wollten sich viele doch außerhalb ihres Landes umsehen.

Enttäuschungen nach wenigen Jahren

1993 - Panzer der russischen Armee beschießen das Weiße Haus in Moskau Velenguri / DPA
1993 - Panzer der russischen Armee beschießen das Weiße Haus in Moskau
Alles kam anders als man gehofft hatte. Der Wohlstand konzentrierte sich bei ein paar Oligarchen und einer kleinen Mittelschicht. 1993 kam es zu einer politischen Krise. Boris Jelzin wollte das Parlament auflösen, weil seine Marktreformen dort zunehmend auf Widerstand stießen. Die Parlamentsführung erklärte den Präsidenten daraufhin für abgesetzt, worauf dieser das Parlamentsgebäude beschießen ließ. Nach dem friedlichen Zerfall der Sowjetunion kehrte die Gewalt in die russische Politik zurück.
Nur zwei Jahre zuvor, 1991, hatte Jelzin vor dem Weißen Haus auf einem Panzer gestanden und medienwirksam den Parlamentssitz gegen einen Putsch konservativer Geheimdienstler und Militärs verteidigt. Doch der Held von 1991 wurde zwei Jahre später für viele russische Bürgerinnen und Bürger zum Buhmann.

Rückkehr zu alten Übeln

Der Krieg gegen militante Separatisten in Tschetschenien wurde für die russische Führung zum Desaster. Vergleichbar nur mit dem Krieg in Afghanistan, der mit dem ruhmlosen Abzug der sowjetischen Armee geendet hatte. Gesundheitlich angeschlagen und von seiner Alkohol-Krankheit gezeichnet, überließ Präsident Jelzin das Zepter einem neuen starken Mann. 1999ernannte er Wladimir Putin zum Ministerpräsidenten und leitete damit eine Ära ein, die bis heute die russische Politik prägt.
Zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion entwickelte sich die russische Gesellschaft zu längst überwunden geglaubten Mustern zurück: Dominante Männer, die sich als Krieger profilieren, und das mit dem Segen der Orthodoxen Kirche, und kontrolliert von einem wieder erstarkenden Geheimdienst. Jahren entwickelte sich die Rückkehr zu alten Macho- und Kriegeridealen.

Alte Ängste - neuer Mut

Doch Putins Propagandisten haben keine Mühe, Russland als Opfer des Westens darzustellen. Tatsächlich hatte die NATO bereits Putins Vorgängern immer wieder versichert, keine Osterweiterung anzustreben. In den Folgejahren wurden die Gelegenheiten, näher an Russland heranzurücken, genutzt. Besonders die historisch tief verwurzelten und berechtigten Ängste Polens und der baltischen Staaten vor dem russischen Nachbarn wirkten wie eine Einladung an die NATO, sich bis an die Grenzen Russlands zu erweitern. Alternativen Sicherheitskonzepten für Osteuropa wurde wenig Aufmerksamkeit eingeräumt.
Russische Armee dpa
Damit wurden im Gegenzug auch die ultra-nationalistischen Kräfte Russlands gestärkt. Auch Teile der russischen Armeeführung haben sich nie von der Vorstellung verabschiedet, eine zweite ordnende Weltmacht zu repräsentieren.
Die Annäherung zwischen der NATO und der Ukraine gab und gibt diesen Gruppen weiter Auftrieb, bis im Jahr 2014 die Russische Föderation unter der Führung Putins die Krim annektierte und im Februar 2022 nach vielen Drohgebärden die Ukraine in einem von den meisten nicht für möglich gehaltenen Angriffskrieg überfiel.
Demonstration gegen den Ukraine-Krieg in St. Petersburg Anton Vaganov - Reuters
Nicht bei allen Russinen und Russen erliegen der Wirkung von Propaganda eigenen Ängsten und Demütigungsgefühlen gleich. Trotz, Einschüchterung, Polizeigewalt und tausenden Verhaftungen protestieren in Russland weiterhin Frauen und Männer mit bewundernswertem Mut gegen diesen sinnlosen und verbrecherischen Krieg des Systems Putin.
Und eines ist auch klar. Solange dieser Krieg dauert und noch darüber hinaus wird für andere wirklich wichtige Fragen Russlands wie die Frauenrechte und die Bekämpfung häuslicher Gewalt wieder einmal weder Platz noch Energie vorhanden sein.
Pussy Riot CC BY-SA 3.0 - Igor Mukhin
Pussy Riot
Russian Pussies Riot

Provokation, Kraft und Ironie

CC BY-SA 3.0 - Igor Mukhin
Der russische Präsident scherzt öffentlich über Vergewaltigung und brüstet sich damit, dass russische Prostituierte die besten der Welt wären. Die Repressalien gegen die feministische Punk-Rock-Band „Pussy Riot“ zeigen deutlich, dass Kritik am russischen Patriarchat auch im einundzwanzigsten Jahrhundert unerwünscht bleibt.

Pussy Riot - „Rowdytum aus religiösem Hass“

Reale Emanzipation im realen neuen Russland

Lange Zeit waren russische Frauen inArbeitsfeldern aktiv gewesen, die im Westen noch als reine Männerdomäne galten. Und doch weht Feministinnen in Russland heute ein scharfer Wind entgegen. Gleichzeitig gelten Freiheiten „made in USA“ heute nicht mehr als erstrebenswertes Ideal. Auch von kritischen Künstlerinnen werden die USA mehr belächelt als bewundert.

„Das muss jede Russin wissen“

So rappte die in Tadschikistan geborene Singer-Songwriterin Manizha für Russland beim Eurovision Songcontest 2021 über einen mitreißenden Beat. „Russian Woman“ kommt ganz unsentimental als weibliche Empowerment-Hymne daher. Das Kostümdesign für den Semifinal-Auftritt in Rotterdam spielte derweil gekonnt mit den bombastischen Folkmotiven einschlägiger TV-Sendungen des russischen Fernsehens und ebenso mit dem einteiligen Overall der sowjetischen Arbeitsheldinnen.
Manizha - "Russian Woman" beim ESC 2021 in Rotterdam Piroschka van de Wouw / Reuters
Manizha - „Russian Woman“ beim ESC 2021 in Rotterdam

„Du bist stark genug, Du wirst die Mauer durchbrechen.“

Beim ESC-Publikum konnte „Russian Woman“ landen. 42 Millionen Views für die 3 offiziellen Versionen aus Promotion, Halbfinale und Finale legen Zeugnis davon ab. Beim russischen Föderationsrat kam der Song nicht so gut an. Dessen frühere Vorsitzende nannte den Text des Songs „eine Art Unsinn“ und verlangte eine Untersuchung des Auswahlverfahrens von Perwy kanal, dem für die ESC-Teilnahme Russlands zuständigen halbstaatlichen populärsten TV-Sender der Russischen Föderation.
„Ich verstehe gar nicht, was das sein soll. Worum geht es da?“, wurde sie von Interfax zitiert. Auch die Politikerin Elena Afanasyeva kritisierte den Song scharf als „aggressiv“ und klassifizierte den Text als "einen Haufen von Sätzen eines unreifen 30-jährigen Mädchens mit ungelösten persönlichen Problemen … Was haben russische Frauen damit zu tun?"
Manizha dagegen sagte in einem Interview, sie habe ihren Song am internationalen Frauentag 2020 geschrieben und er handle von der Transformation des weiblichen Selbstbewusstseins der Russinnnen in den letzten 100 Jahren.

Ironie und pragmatische Kompetenz statt zerplatzter Illusionen

Die Volkslied-Gruppe „Beloe Zlato“, ein Ensemble junger Sängerinnen, macht mit Kopftüchern, folkloristischer Kleidung, professionellen Videos und einer ordentlichen Portion Augenzwinkern ihre ganz eigene Sache, Website und Youtube-Channel inklusive. Neben den russischen Liedern, dörflichen Settings und Kostümen findet da auch ein Cover von „California Dreaming“ seinen Platz.
Die vier Frauen nehmen damit nicht nur die glatte Perfektion amerikanischer Popmusik-Produktion aufs Korn, sondern auch den russischen Alltag und ihre eigene Kostümierung mit Balalaika- und Blöckflötenspiel. Ironisch spielen sie mit der alten Sehnsucht, aus dem russischen Winter ans warme Meer und nach Hollywood zu reisen. Humor ist für sie, wenn man trotz allem noch lachen kann.

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Autor, Gestaltung, Team

Gestaltung

Christian Schüller ORF
Christian Schüller, ORF
ORF-Reporter Christian Schüller, selbst lange für den ORF in Moskau, hat im November 2021 für das Weltjournal die Geschichte der Sowjetunion und der Russischen Föderation von 1971 bis 2021 durch die Brille der verschiedenen ORF-Korrespondent:inn:en erzählt.
Hier wird aus aktuellem Anlass der Blick auf die Geschichte der russischen Frauen gerichtet, die sich im Vergleich mit Westeuropa doch sehr verschieden entwickelt hat.
Die enthaltenen Videobeiträge wurden von den ORF-Korrespont/inn/en Otto Hörmann, Franz Kössler, Christian Schüller, Susanne Scholl, Georg Dox und Carola Schneider gestaltet. Das Youtube-Video ist eine Eigenproduktion von Beloe Zlato.
An der multimedialen Gestaltung haben Kenny Lang und Roland Winkler mitgearbeitet.